Herr, o Herr, soll größer noch
Deine Kette werden?
Reicht sie von dem Himmel doch
Längst herab zur Erden!
Wieder, weil ein Jahr verging,
Sprudelt man Sonette,
Singt von einem neuen Ring
An der alten Kette.
- Zu Beginn der ersten Strophe wendet sich das lyrische Ich ganz offensichtlich an Gott mit der Frage, ob dessen Kette noch größer werden solle.
- Anschließend wird festgestellt, dass sie ja schon lang genug ist, wenn sie vom Himmel bis zur Erde reicht.
- Bei alldem bleibt offen, was mit Kette gemeint ist, sie kann ja eine Verbindung darstellen, aber eben auch ein Hindernis.
- Die vier Schlusszeilen beziehen sich dann auf den Titel des Gedichtes, nämlich den Zeitpunkt des Neujahrsfestes. Wohl eher ironisch oder satirisch ist davon die Rede, dass man zu diesem Anlass Sonette, also recht formvollendete Gedichte "sprudelt".
- Und dann geht es um einen neuen Ring "an der alten Kette."
- Bis hierhin ist also alles relativ offen, bis auf die negative Äußerung zu künstlerischen Produkten und das ebenfalls nicht positiv klingende Attribut zu Kette.
Kette, o du klirrend Bild,
Schreckwort aller Zungen,
Welch ein Gott hat grausam wild
Dich ums All geschlungen?
Dass er seine Sterne wohl
Vor dem Falle rette,
Muss der Ewigkeit Symbol
Bleiben eine Kette?
- Die zweite Strophe schafft dann schnell Klarheit, indem Kette als "Schreckwort aller Zungen" aller Menschen mit dieser Sprache) bezeichnet wird.
- Dann wird die Frage nach dem Urheber dieser Kette gestellt, die "ums All geschlungen" ist, also alles umfasst.
- Seltsam ist die angenommene Begründung für das Anbringen dieser Kette, die Sterne, also Gottes Schöpfung soll möglicherweise wohl vor dem Falle, also dem Zusammenbruch gerettet werden.
- Rein hypothetisch würde es passen, wenn hiermit die Naturgesetze gemeint wären. Aber warum will das lyrische Ich und indirekt wohl in diesem Bekenntnisgedicht der Dichter Herwegh das ändern?
- Oder geht es hier im übertragenen Sinne um Sterne, unerreichbare Lichtpunkte, vielleicht die Religion, die ja zu Neujahr eine besondere Rolle zur Zeit Herweghs spielte.
- Und am Ende dann die kritische Frage, ob wirklich die Kette "der Ewigkeit Symbol / bleiben" müsse.
- Das verstärkt die Vermutung, dass es hier möglicherweise um Kirchenkritik geht.
Kann der Jahre Trauerschar,
Herr, dir nicht genügen?
Wirst du immer, immerdar
Ring zum Ringe fügen?
Endigt nie der Menschheit Qual?
Hebt sie nie ihr Bette?
Wächst sie nie, der Freien Zahl?
Wächst nur deine Kette?
- Es folgt ein sehr negativer Rückblick auf die verflossenen Jahre.
- Gefolgt von der Frage, ob es so weitergehen müsse.
- In der 5. Zeile dann eine Konkretisierung: Es geht dem lyrischen Ich um "der Menschheit Qual" - und wenn anschließend von der "Freien Zahl" die Rede ist, die zu klein bleibt, dann deutet das auf Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen hin.
Fragend schaut′ ich manche Nacht
Auf zu deinen Hallen;
Endlich, hab′ ich oft gedacht,
Muss die Kette fallen.
Ach! mein Hoffen trieb im Sturm
Auf dem letzten Brette,
Und ward, ein getretner Wurm,
Auch ein Ring der Kette.
- In dieser Strophe geht es um die Fragen und die Hoffnungen des lyrischen Ichs in Richtung Veränderung, Besserung der Verhältnisse.
- Alles das trieb "im Sturm" auf "dem letzten Brette", also mit geringen Chancen auf Rettung
- und am Ende fühlte sich das lyrische Ich als ein "getretner Wurm", der sogar noch zu einem "Ring der Kette" wurde.
Herr, o spare deinen Grimm
Fürder den Tyrannen,
Einmal mit dem Jahre nimm
Einen Ring von dannen!
Gib uns, was wir heiß gesucht,
Trüg′s auch Dorn und Klette,
Mindre nur die schwere Wucht
Deiner goldnen Kette!
- In dieser Strophe bittet das lyrische Ich Gott, er möge seinen "Grimm" lieber den Tyrannen widmen
- und einmal im Jahr einen Ring wegnehmen, statt immer einen hinzuzufügen.
- Dann die intensive Bitte, dass die Hoffnungen erfüllt werden, auch wenn sie mit negativen Begleiterscheinungen verbunden sind "Dorn" oder "Klette". Worauf sich das bezieht, bleibt offen.
- Entscheidend ist eine Verminderung der Last - interessanterweise "deiner goldnen Kette". Hier bekommt die Kette nach "alt" ein zweites Attribut, das auf Reichtum hindeutet. Das würde zur Kirche passen - aber das bleibt alles noch Hypothese.
Nimm, die sie so lang umfing,
Nimm sie von der Erden;
Lass der Kette letzten Ring
Freiheitsbrautring werden!
Höre unser banges Schrein:
Herr, o Herr, errette,
Und den Teufel lass allein
Ewig an der Kette!
- Hier kommt nicht viel Neues,
- außer dass neben den Tyrannen jetzt der Teufel zum Objekt von Gottes Zorn gemacht werden soll.
Ja! du wirst. Schon seh′ ich, traun!
Neue Sterne ziehen,
Neue Tempel seh′ ich baun,
Neue Völker knieen;
Donnerklang und Harfenton
Rufen in die Mette -
Still! die Engel opfern schon
Einen Ring der Kette.
- Zu Beginn der letzten Strophe wird zunächst der Eindruck erweckt, es würde sich etwas positiv ändern - der "Herr" die Kette lösen.
- Dann heißt es plötzlich, dass es "neue Sterne" gebe, "neue Tempel" - damit wird deutlich, dass es sich hier nicht um Naturwissenschaft handelt, also eine kosmische Kette, sondern eher um eine geistige.
- Etwas irritierend ist dann, dass "neue Völker kniien" - das verbindet Positives und zumindest Problematisches vor dem Hintergrund von Freiheit.
- Am Ende dann doch eindeutig Positives: Denn "Donnerklang" und "Harfenton", also die dröhnende Variante und die ruhige, leise, rufen in die "Mette", die Messe ist wohl gemeint.
- Dort - sieht das lyrische Ich am Ende - opfern die Engel schon "einen Ring der Kette", es erfüllt sich also der Wunsch des lyrischen Ichs.